Oswald Tschirtner
1920 | in Perchtoldsdorf geboren |
2007 | in Gugging verstorben |
stammte aus einer streng katholischen Familie, besuchte das Gymnasium im Priesterseminar Hollabrunn, Niederösterreich, und wollte Priester werden. Er war ein vorzüglicher Schüler, maturierte mit Auszeichnung. Aufgrund des Zweiten Weltkriegs wurde er nicht zum Theologiestudium zugelassen, deshalb begann er ein Chemiestudium, bevor er zum Reichsarbeitsdienst und danach zum Militärdienst eingezogen wurde. Als Obergefreiter war er Funker in Stalingrad, das er mit dem letzten Urlauber-Transport verließ. Danach geriet er in französische Kriegsgefangenschaft, wurde aber schon bald, im August 1946, an die österreichische Grenze gebracht und freigelassen. Nach seiner Rückkehr hatte er psychische Probleme, sodass er ab 1947 dauernd hospitalisiert war. Er litt an Halluzinationen und wurde 1954 in die Anstalt Gugging überstellt. Nachdem Leo Navratil 1981 das Haus der Künstler gegründet hatte, lebte er dort bis zu seinem Tod.
Er war einer der ersten Künstler, die Leo Navratil entdeckte. Seine Menschen sind Kopffüßler, sparsam dargestellt, ohne kennzeichnende Attribute wie Kleidung oder Geschlecht. Der Kopf verfließt mit dem Körper, die Beine sind nicht getrennt, sondern vereinen sich – durchaus elegant – zu einem stammartigen Rumpf mit fingerlosen Armen. Dadurch entwickelte er sich zum Meister der minimalistischen Bildauflösung: Er konnte zum Beispiel eine Landschaft mit zwei Strichen, ein Tier mit einem einzigen Punkt darstellen. Oftmals verbirgt sich in seinen Werken eine ergötzliche Portion Witz.
Gezeichnet hat er nie aus eigener Initiative, sondern musste dazu ermuntert werden. Mag sein, dass er seine Kopffüßler erfand, um die ihm gestellte Aufgabe so schnell wie möglich zu erledigen. Allemal hatte er Schwierigkeiten, sich zu etwas aufzuraffen und Entscheidungen zu treffen. Er wollte auch durchaus gebeten und bedient werden. Das Material musste hergerichtet sein, sodann war er mit hoher Konzentration bei seiner künstlerischen Arbeit. Immer wieder gelang es ihm, durch neue Bildlösungen zu verblüffen: Geniale Kreationen, und im hohen Alter von über achtzig Jahren kam sogar eine neue Farbigkeit hinzu. Bei ihm hat man das Gefühl, dass es anscheinend total einfach ist, Kunst zu kreieren.
Ansonsten lebte er zurückgezogen und war meist in die Bibel versunken. Im Gegensatz zu seinem Freund Johann Hauser, mit dem er Jahrzehnte ein Zimmer im Haus der Künstler teilte, wollte er kaum reisen, blieb lieber zu Hause, wo er sich sicher fühlte. Neben dem Zeichnen folgte er einem anderen Ritus, den er täglich durchführte: der Gang zur Trafik, um ein Kreuzworträtsel und ein Los zu kaufen. Ob das Los gewann oder nicht, interessierte ihn indes gar nicht.
Neunzig Prozent seiner Werke zeichnete er mit Tusche und Feder auf sehr kleinen Papieren, nicht größer als 15 mal 21 Zentimeter. Das erste Großformat entstand 1980 und war eine Rarität. Als er 1983 gebeten wurde, seine Figuren auf die gesamte Mauer des Hauses der Künstler zu malen, hatte er trotz eines die Sicht behindernden Gerüstes die absolute Sicherheit, dies in derselben Manier und Qualität zu machen. Seine größte Arbeit gelang ihm 1994 während des Kunstfestivals „Steirischer Herbst“ in Graz. Er schuf ein Gemälde auf Holzplatten in der Größe von 4 mal 15 Metern – entstanden an einem einzigen Tag.